FLORA

Jagd durch den weißen Regenwald

Kapitel 1

Nervös trotte ich Adelyna hinterher. Meine heutige Partnerin fliegt regelrecht durch den Regenwald. Wie gelbe Sonnenstrahlen tanzen ihre blonden Haare durch das fahlweiße Gestrüpp des Foresta.

Wir bezeichnen den Foresta als Regenwald, weil Hitze und Re­gen so rasant wechseln. Im einen Sonnenstrahl brütest du unter der hei­ßen Sonne, im nächsten wirst du nass bis auf die Haut. Das per­fekte Wetter für die Bewohner und Herrscher dieses Waldes: die Pflan­zen.

Ihr Rascheln und Wispern vermischt sich zu einem Rauschen, das an meinen Nerven zerrt. Ich fühle mich wie ein zu fest ge­knüpftes Seil in einem Netz. Als könnte ich jederzeit zerreißen. 

Ich kämpfe mich mit meiner Machete durch das Gewirr aus wei­ßen Blüten, Blättern und spitzen braunen Ästen. Die Zweige ver­heddern sich in meinen schwarzen Locken. 

Ich reiße den Kopf hin und her, um mich zu befreien. Das Ziepen und Zerren treibt mir Tränen in die Augen. Doch ich höre nicht auf. In Bewegung zu bleiben, ist das Einzige, was in dieser Si­tua­tion hilft. Und Ruhe zu bewahren. 

Letzteres fällt mir am schwersten. Ich weiß genau, warum mich die Pflanzen angreifen. Mein Sensus bebt unaufhörlich. 

Im Sensus sitzen unsere Gefühle. Um zu überleben, müssen wir ihn verschlossen halten. Und genau da liegt das Problem. Statt mit mei­nem sechzehnten Lebensjahr die Kontrolle über meinen Sensus erlangt zu haben, fällt es mir mit jedem Sonnentag schwerer, meine Gefühle zu unterdrücken. Sie brechen hervor wie die Wurzeln eines Baumes beim Wechseltag. Nur dass ich in diesem Wald keinen neu­en Platz finde, sondern gefressen werde, wenn meine Stimmungen an die Oberfläche kommen.

Die rötlich schimmernden, herzförmigen Blätter der Mondblüten spiegeln die Unfähigkeit, meine Emotionen zu kontrollieren, wider. Mit Wucht schlage ich auf die Pflanze ein. Die Blüten färben sich dunkelrot. Schreiend lasse ich die Machete sinken. Es hat keinen Sinn. Hier herrschen die Pflanzen und ich bin die Beute. 

Tief durchatmend eile ich weiter. Die Schneise, welche Adelyna ge­schlagen hat, wächst so rasch zusammen, dass sie kaum zu sehen ist. Der Regenwald verschluckt sie. Ich hacke schneller. Auf keinen Fall will ich allein zurückbleiben. 

Eine ungewöhnliche Mischung aus Mondblüten, Sonnentau und Monsterablättern verdichtet sich vor mir. So unterschiedlich die Pflanzen aussehen, eins haben sie alle gemeinsam: Sie greifen mich sofort an. Ihre harten, spitzen Blätter stechen durch meine weiß­graue Tunika, und ihre dürren Stängel krallen sich in den aus den Fasern des Fibrisbaumes gewebten Stoff. Zum Glück reicht das Kleid bis zu den Handgelenken und Knöcheln, sodass meine helle Haut gut geschützt ist. 

Dass sich die Pflanzen an einem Ort sammeln, kann nur bedeuten, dass keine Blume bisher die Vorherrschaft darum errungen hat. 

Ich hacke mit meiner Machete schneller und winde mich aus dem Griff der Blätter. Schweiß fließt mir den Rücken hinunter.

Der Sonnentau bekommt leichte blaue Schlieren, der süß-fau­lige Geruch steigt mir in die Nase und seine klebrigen Fangblätter beugen sich mir entgegen. Das Zittern wirkt erwartungsvoll. Ich schlucke und ignoriere das schnelle Schlagen meines Herzens. 

Nicht nur die Angst vor dem Foresta macht mir heute zu schaffen. Die anstehende Prüfung meines Bruders ist ein Stein auf mei­ner Brust, welcher mir das Atmen schwer macht. Heute wird sich zei­gen, ob er die Magie in sich trägt.

Die Magie wird Jarlan vor den Pflanzen schützen, ihn mir aber wegnehmen. Es ist rücksichtslos, sich deswegen schlecht zu fühlen, und ein Beweis, warum Liebe gefährlich und verboten ist. Wie alle Gefühle. 

Etwas schiebt sich durch das Gestrüpp vor mir, und ich hebe abwehrbereit meine Machete. Adelyna taucht vor mir auf.

»Reiß dich zusammen, Valerie!«, faucht sie mich an. Die Blätter der Mondblüte färben sich rot. Adelynas dunkelbraune Augen funkeln wütend in ihrem kakaobraunen Gesicht. Sie blutet aus einigen Kratzern auf ihrer Wange.

Mir wird übel, und ich würde mich am liebsten verstecken. So ergeht es mir immer, wenn ich unkontrolliert bin oder mir Fehler leiste.

Adelyna hackt auf die Ranken ein, die sich an meiner Tunika zu schaffen machen, und hilft mir, durch das Dickicht der Pflanzen zu dringen. 

Sie ist ein Jahr jünger, aber größer als ich. Ihr Zorn ist ungewöhnlich für sie. Selten zeigt ihre Mimik eine Regung. Mit ihren fünfzehn Sonnenjahren ist Adelyna Meisterin darin, ihre Gefühle ver­schlossen zu halten. Sie hätte Kontrolleurin werden können. Das ganze Dorf hatte damit gerechnet, doch die Prüfung zeigte bei ihr keine Veränderung. 

Ich mag sie, aber das beruht nicht auf Gegenseitigkeit. Sie geht, wann immer es ihr möglich ist, mit jemand anderem Bacasbeeren sammeln. 

Allein dass ich mir zugestehe, sie zu mögen, zeigt deutlich, dass mit mir etwas nicht stimmt. Meine Zuneigung zu anderen bringt das Dorf in Gefahr. Ich bin gefährlich.

Bis sieben zählend atme ich ein und aus, dabei massiere ich mit einer Hand die weiche Stelle zwischen Daumen und Zeigefinger. Die Massage hilft mir, die Kontrolle über meine Emotionen zu er­langen. Eine Technik, die wir im Kleinkindalter lernen. 

Die Blüten werden wieder fahlweiß.

Konzentrier dich, Valerie, rede ich mir in Gedanken zu. Tief atme ich die feucht-schwüle Luft ein.

Mir beißt der faule Duft von einer Rafflesie in der Nase, und ich gehe bedächtig weiter. Der Geruch lockt die Plantis an – kleine, fliegende Pflänzlinge, die sich von Nektar oder Blut ernähren. Aber der Gestank hält die Motus – riesige pflanzliche Jäger, die sich auf ihren Stängeln durch den Wald bewegen – auf Abstand. Im Foresta hat alles seinen Preis. 

Es raschelt in den Baumkronen. Ich spitze die Ohren, immer vorsichtig. Immer achtsam. Das Leben um mich herum schreit mir mit jeder Pflanzenfaser entgegen, dass ich nicht hierhergehöre. Ich bin ein Fremdkörper. Der ganze Wald ist giftig und gefährlich. 

Adelyna verschwindet in dem weißen Monsteragewächs vor mir. Ich wechsele die Machete in die linke Hand. Die Schulter kreisend, lasse ich die Klinge auf die Pflanzen sausen, damit mir kein Ast oder Blatt zu nahe kommt. Ich schaffe es, meinen Sensus so weit unter Kontrolle zu halten, dass nur leichte graue Flecke die Blät­ter der Monstera färben. 

Der leere Sack schlägt gegen meinen Rücken. Noch ist er leicht, auf dem Rückweg hoffentlich prall gefüllt mit Bacas. Die Beeren sind Teil unserer Nahrungsgrundlage, und heute steht neben der Prüfung der Vierzehnjährigen die Abgabe an das Forum an. 

Das Forum wacht über uns. Beschützt uns. Aber dafür erwartet es auch etwas. Einen Beitrag, in Form von Kleidung, Nahrung und anderen Gütern. Sollten wir unseren Teil nicht aufbringen können, werden wir bestraft. 

Ein Plant kommt auf mich zugeflogen, und ich weiche rasch aus. Der fliegende weiße Pflänzling sieht ungefährlich aus mit sei­nem dicklichen Wurzelkörper, an denen sechs bewegliche Stängel her­unterhängen. Die durchsichtigen Blätter flattern wild auf und ab und verursachen ein unangenehmes, sirrendes Ge­räusch. 

Doch wie überall im Regenwald trügt der Schein. Plantis sind fast immer giftig. Nur von wenigen ist der Pflanzensaft zur Heilung von Wunden und Krankheiten nutzbar. 

Die glockenförmige, zahnbesetzte Blüte des Plant streckt sich mir entgegen. Fuchtelnd verjage ich den fliegenden Pflänzling. 

Ich zerre an meiner Tunika. Meine schwarzen Haare locken sich verschwitzt im Nacken und geben den Hals frei. Gefährlich. Der dicht gewebte Stoff schützt nicht nur gut vor Dornen, sondern auch vor den Bissen der Plantis. Ich richte die Kleidung und konzentriere mich wieder auf die Umgebung. Wo ist Adelyna?

Eine Liane, weißgräulich schimmernd, räkelt sich um einen dicken braunen Stamm, kaum zu erkennen zwischen den fahlen, zer­fransten Palmenblättern des Coccosbaumes. 

Ich weiche zurück. Die beweglichen Lianen sind immer giftig und auf der Jagd. Im schlimmsten Fall gehören sie zu einem Motus. 

Egal, ob Liane oder Jäger, eins haben die Pflanzen hier alle ge­mein­sam: Sie können töten. Und ich bin eine beliebte Beute. 

Das Keuchen meines Atems vermischt sich mit dem Wispern und Rauschen der Blätter. Die Geräuschkulisse ist ein gutes Zeichen. Wenn es still wird, habe ich ein Problem. Dann ist der Jäger nah. 

Ich gehe weiter, vorbei an einer zerfallenen Mauer, die verloren zwischen einem Monsteradickicht und einem Sonnentaubusch steht. Keine Pflanze kommt diesem Relikt aus einer längst vergangenen Zeit zu nahe. Auf dem Mauerrest ist ein Metallschild angebracht. Schwach sind noch grüne Farbreste zu erkennen, die den Abdruck von einem Pflänzling umgeben.

Ich wische mir den Schweiß von der Stirn und gehe schneller. Die beste Überlebenschance habe ich, wenn ich mich an Adelyna halte.

*** Ende der Leseprobe *** 

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© 2022 Franziska Szmania 

Berlin

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Umschlaggestaltung: Nina Austermeier

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