MARJOLA

Flucht vor den Elementen

Kapitel 1

Der Regen prasselt unablässig auf die steinernen Ruinen der Hochhäuser und sammelt sich zu Pfützen in den Rissen und Löchern der Straßen. Das wenige Moos und Gras wird ertränkt, ehe es groß genug werden kann, dem ständigen Niederschlag standzuhalten. Ich ducke mich unter einen hervorstehenden Balken eines hohen Gebäudes, dessen Dach in den dunklen Wolken ver­schwindet.

Wir haben endlich Northtown erreicht. Nach dem monatelangen Marsch durch Wüste und Sumpf freue ich mich auf die Auszeit im Norden, ehe es zurück in den Süden geht. Seit Jahrzehnten wandert die Herde – eine Ansammlung von Tausenden von Menschen – über den Planeten. Immer auf der Flucht vor dem Wetter.

Während meiner Suche nach einem sicheren Ort für meinen Clan, den GoLab, und unsere Tauben, bin ich tief in das Innere der Stadt vor­gedrungen. Diesen Teil kenne ich selbst nach siebzehn Wanderjahren nicht besonders gut.

Die Hochhäuser ragen unzählige Armlängen über mir in den grauen Himmel. Sie wirken stabil und ihr Zerstörungsgrad noch nicht so weit fortgeschritten wie am Rand der Stadt.

Doch ich muss mir sicher sein, dass dieser Ort für unser Sommerlager infrage kommt, ehe ich den Rest meines Clans holen kann.

Meine kurzen braunen Haare hängen mir ins Gesicht. Ich wische mir den Schleier von den Augen und stopfe die nassen Zotteln zurück unter die Kapuze.

Das neue Regencape ist zum Glück absolut wasserdicht. Ich habe ewig an diesem Kleidungsstück gearbeitet. Allein das Sammeln der dicken Tüten und Planen hat Wochen gedauert; das Nähen und Versiegeln der Nähte war eine reine Tortur. In der Wüste an einem Regenmantel zu arbeiten, hatte etwas Irrsinniges. Heute bin ich dankbar für das Durchhaltevermögen meines vergangenen Ichs.

Das Gebäude, an dem ich dicht gedrängt Schutz suche, ist halb zerfallen, bietet aber einige geschlossene Räume, in die wir uns zurückziehen könnten. Auf der anderen Straßenseite steht eine halb offene, niedrige Ruine mit einem fast unversehrten Dach. Die Wände sehen stabil genug aus, um den Wagen mit den Tauben vor der Witterung zu schützen.

Der Ort wäre perfekt für unser Sommerlager, wenn nicht eine zerbrochene Betonplatte den Eingang zur Halle versperren würde.

Leider ist unser Unterschlupf vom letzten Jahr nur noch ein Geröllhaufen. Wind, Eis und Kälte haben dem Gebäude zugesetzt.

Die Städte ändern ihr Angesicht und zerfallen immer mehr. Nichts bleibt, nichts ist beständig. Die Nord- und die Südstadt sind die letzten Zeugnisse unserer Vorfahren.

Früher soll es Tausende Städte gegeben haben, in denen Tag und Nacht elektrisches Licht gebrannt hat; und flirrende Bilder sollen jedes noch so kleine Gebäude geschmückt haben. Metallene Fluggeräte sind bis zum Mond – und weiter – geflogen. Maschinen, die selbstständig denken konnten, haben die schweren Arbeiten für die Menschen übernommen. Es gab unendlich viel Energie, und unsere Vorfahren haben das Wetter kontrolliert.

Die Anhänger der Alten Welt erzählen jedem davon, ob dieser es hören will oder nicht. Vieles halte ich für ein Hirngespinst, eine Fan­tasie der abergläubischen Jünger.

Meine zwei Jahre jüngere Schwester Zofia ist eine glühende Anhängerin dieser Bewegung. ›Die Alte Welt erbebe!‹, das ist ihr Motto. Diese nichtsnutzigen Eiferer wollen mithilfe der angeblich noch existierenden Technologien das frühere Paradies wieder zum Leben erwecken.

In meinen Augen ist das, was Zofia und die anderen Anhänger finden, nichts weiter als Schrott und Müll. Stattdessen sollten sie lieber Plastik sammeln.

Ich verbanne die Gedanken an meine Schwester und ziehe die Kapuze über die Stirn. Mein Clan wartet am Rand der Stadt und ist ebenso hungrig und müde wie ich.

Ich stemme mich gegen den aufkommenden kalten Wind und den Regen, der mir ins Gesicht peitscht. Meine Schuhe, gefertigt aus dünnen Plastiksohlen und einer dicken Tüte, versinken im Matsch der aufgebrochenen Straße. Tief gebeugt kämpfe ich mich bis zu der Halle durch.

Winzige Mücken mit ledrigen, wasserabweisenden Flügeln setzen sich auf meine Arme. Noch ein Grund, mich über das Cape zu freuen; es schützt mich vor den schmerzhaften Stichen der Insekten.

Tief atme ich ein und drücke gegen den Stein. Meine Beine zittern, und meine Füße verschwinden im matschigen Boden. Die Platte vor der Halle rührt sich kein Stück. Wäre auch zu schön gewesen.

Auf keinen Fall will ich meine Cousins um Hilfe bitten. Sie würden mich den ganzen Sommer damit aufziehen.

Meine Geschwister kann ich ebenfalls nicht fragen. Tomasz, der zwei Jahre älter ist als ich, jagt vermutlich Frösche, während Zofia bestimmt jeden Stein umdreht auf der Suche nach Überbleibseln unserer Vorfahren. Wieso diese unsinnige Schatzsuche von meiner Tante toleriert wird, kann ich nicht nachvollziehen. Meine Schwester sollte lieber mir helfen. Der Ärger über ihre Unzuverlässigkeit rumort in meinen Magen.

Zweiter Versuch. Ich lege den Boho auf einem Mauervorsprung ab, weil mich die lange Stange aus Holz am Rücken behindert. Ohne die Waffe fühle ich mich nackt, und ich kontrolliere die Umgebung. Ich scheine allein zu sein.

Dennoch ist mir nicht wohl. Aber je schneller der Eingang frei ist, desto eher kann ich den Clan holen.

Ich kreise die Schultern und drücke mit aller Kraft beide Hände gegen den Beton. Meine Schuhe finden keinen Halt im Schlamm, und ich falle auf die Knie – sinke ein.

»Uff«, keuche ich.

Eine unangenehme Hitze breitet sich unter meiner Kleidung aus. Die Anstrengung lässt mich schwitzen. Mir ist heiß, gleichzeitig schlägt mir der kalte Regen ins Gesicht. Mit meinem gesamten Gewicht stemme ich mich gegen den Brocken, kneife die Augen zusammen und atme konzentriert durch den Mund ein und aus.

Nur ein Stückchen, bete ich zu allen Gottheiten, die mir beistehen wollen. Mir ist jede recht.

Ein Ruck geht durch den Stein, und die Platte bewegt sich. Überrascht öffne ich die Augen.

Ein junger Mann presst sich neben mir gegen den Beton. Feine Adern treten vor Anstrengung auf seiner Stirn hervor. Die dicken Tropfen sickern in seine graue Kluft, und die Haare kleben nass und platt an seinem Kopf.

Der Felsen bewegt sich erneut ein Stück. Überrumpelt von der unvorhergesehenen Hilfe drücke ich ebenfalls gegen die Platte. Endlich rutscht der Stein zur Seite und gibt den Eingang frei.

Der Junge stemmt sich hoch und drückt seinen Rücken durch. Ich muss den Kopf in den Nacken legen, um in sein Gesicht zu schauen.

Mit seinem dunkelbraunen Teint und der breiten Nase sieht er Yaris ähnlich.

Yaris gehört dem Nugget-Clan an und ist der beste Freund von Zofia. Doch mein ungebetener Helfer trägt nicht die aufwendige Kleidung der Steingott-Anbeter. Zitternd steht er in einem völlig durchnässten Stoffkleid vor mir und schlingt die nackten Arme um seine schmale Brust. Auch seine Beine stecken unverhüllt im Schlamm.

Ich mustere ihn misstrauisch. Er ist bestimmt drei Wanderjahre älter als ich. Von welchem Clan stammt er? Hilft er mir, weil er in der Schuld von uns GoLab steht? Oder ist er eine Ablenkung und jemand will mich bestehlen? Meine Kleidung? Er muss frieren – so halb nackt, wie er herumläuft.

Mit der rechten Hand taste ich langsam über die Schulter, doch fasse ins Leere. So eine Plastikschmelze! Ich hatte den Boho abgelegt.

Der Fremde regt sich nicht. Worauf wartet er? Ist er ein Städter?

Die Städter kommen nur aus ihren Bunkern, um unsere Vorräte und Güter zu stehlen. Und unartige Kinder, wie Vater früher scherzhaft sagte.

In den unterirdischen Anlagen der Städte suchten die Menschen nach der großen Klimakatastrophe Schutz vor dem Wetter.

Doch nicht alle fanden dort Platz. Seitdem gibt es die Städter und die Herde. Wir sind gezwungen zu wandern, um der Hitze, der Kälte, den Stürmen und den Erdbeben zu entkommen, während sie in Sicherheit an Ort und Stelle bleiben können.

Der Junge schaut mich so intensiv an, dass mir mulmig wird. Vielleicht ist an Vaters Warnung doch etwas dran?

Ich muss weg. Weg von ihm. Ich bin zu erschöpft, um es mit Städtern aufzunehmen. Scheiß auf die Ruine. Es gibt andere. Langsam wanke ich rückwärts.

»Ich bin Omeo.« Der Junge lächelt und reicht mir seine Hand. Sie ist groß, mit langen, zarten Fingern.

Was soll das? Will er mich packen?

»Weiß zwar nicht, was der Stein dir getan hat, aber na ja … bitte, gern geschehen.« Jetzt grinst er so breit, dass ich seine Zähne sehen kann.

›Getan‹? Wovon redet er? Ist er wirr im Kopf? Nein, ich selbst denke wirr.

Ich taumele zurück. Aus den Augenwinkeln beobachte ich die Ruinen und den Platz, doch ich kann keine Verstärkung entdecken. Ist er wirklich allein?

Der Eingang zur Halle steht offen vor mir. Was soll ich tun? Der Ärger über den Kerl schnürt mir die Kehle zu.

»Wer bist du und was willst du?« Meine Stimme ist ein Fauchen im plätschernden Regen.

»Du brauchtest Hilfe, oder?«

»Nicht von dir!«, antworte ich und ziehe mich weiter zurück. Der Boho liegt nur noch einen Schritt entfernt.

»Entschuldige, ich wollte dich nicht verärgern.« Der Junge geht langsam rückwärts und hält die Hände abwehrend nach oben. Er hat eine Gänsehaut. Wie kann er so dünn angezogen in den Regen gehen?

Ich schüttele den Kopf. Nur Städter sind so dumm.

Der Junge schaut mich noch einmal kurz an, winkt wie zum Ab­schied und verschwindet zwischen den Ruinen.

Was war das denn?

Blinzelnd stehe ich da und überlege. Keine Ahnung, warum er mir geholfen hat. Vielleicht wollte er auskundschaften, wo wir unser Lager aufbauen. Vielleicht war er geistig verwirrt.

Ich bin völlig erschöpft. Egal, wo wir unterkommen – wenn die Städter wollen, finden sie uns.

Ich gehe vorsichtig in die Halle hinein. Nur wenige Löcher im Dach lassen den Regen durch. Die Wände sehen stabil und sicher aus. An diesem Ort wären die Tauben gut geschützt.

Nein, ich lasse mich von einem dahergelaufenen Jungen nicht vertreiben. Wir verstecken uns nicht wie die Städter. Wenn er es wagen sollte, uns anzugreifen, werde ich ihm zeigen, wozu wir Wanderer fähig sind.

Müde wende ich mich ab und schlage den Weg zurück zu meinem Clan ein. Ich wate wachsam durch den Regen. Die gesamte Herde sucht Schutz in der Stadt. Tausende Wanderer errichten ihre Lager zwischen den Ruinen von Northtown, um den Sommer hier zu verbringen. Auf der Wanderung sind wir aufeinander angewiesen – in der Stadt werden wir zu Rivalen.

Im lauten Plätschern des Regens sind Geräusche nur schwer zu hören. Immer wieder suche ich die gewaltigen Häuserruinen ab, doch niemand scheint in diesem Teil der Stadt unterwegs zu sein. Die meisten Mitglieder der Herde bleiben am Rand von Northtown. Tante Danuta will aber, dass wir uns wegen der Tauben im inneren Teil der Stadt niederlassen. Das ist sicherer.

Begehe ich einen Fehler, den jungen Mann nicht ernst zu nehmen, und bringe uns damit in Gefahr? Mein Bauchgefühl stimmt dem zu, mein Verstand will dagegenhalten. Diebe sind überall. Es wäre verrückt, diesen guten Platz deswegen aufzugeben. Dennoch lässt mich das ungute Gefühl nicht los.

Irgendetwas liegt in der Luft. Dieses Wanderjahr wird anders werden. Das spüre ich bis tief in die Knochen.

Die Straße unter mir besteht aus brüchigem Beton mit vielen Rissen und Löchern. Immer wieder stolpere ich, da ich im Regen und in der aufkommenden Dunkelheit kaum etwas sehe. Die Nacht ver­treibt das wenige Tageslicht und der Mond versteckt sich hinter den Wolken.

Danke Luna für deine Hilfe. Nicht.

Die Mondgöttin kann, wie der Sonnengott Solar, den Norden nicht gut leiden. Sie werde ich hier kaum zu Gesicht bekommen.

Die Häuser am Straßenrand wirken bedrohlich. Das wenige Restlicht wird von den Löchern in den Wänden verschluckt. Überall könnten sich Städter oder Wanderer aus dem hinteren Rang verstecken und mir auflauern.

Ruhig bleiben, Marjola.

Ich bin gewiss keine lohnende Beute. Eher suchen sie nach dem Taubenwagen. Doch an meinen Cousins kommt niemand vorbei.

Der Geruch des Regens vermischt sich mit dem rauen Duft des Betons. Nach der monatelangen Wanderung genieße ich das frische Ge­fühl. Doch das wird nicht lange währen.

Mein Fuß bleibt stecken, und ich falle. Hart lande ich auf dem Boden.

»Plastikmüll«, schimpfe ich und stehe wieder auf.

Ich habe mir die Handflächen aufgeschürft und die Hose an den Knien aufgerissen. So etwas Dummes. Ich habe die letzte Tüte für mein Unterhemd aufgebraucht.

»Augen auf im Straßenverkehr«, murmele ich einen Kinderspruch, der in diesem Moment etwas Wahres hat.

Ein Seil liegt halb versteckt hinter einem Mauerteil, und ich bin über das lose Ende gestolpert. Fasziniert hebe ich es hoch. Es ist kein Seil aus Plastikleinen oder geknoteten Tüten, sondern aus Fasern, wie ich es noch nie gesehen habe.

Ich kenne keinen Clan, der solch ein Seil hat. Gehört es dem Städter? Wollte er etwas fangen? Einen Fuchs? Die sind schnell und schlau. Selbst meinem Bruder gelingt es selten, einen zu erhaschen. Eher reißen sie dich oder die Tauben.

Ich rolle das Seil auf. Vater wird staunen, wenn ich ihm den Fund zeige, und vielleicht ein gutes Wort für mich übrighaben.

Ich schüttele den Kopf. Und wovon träumst du nachts, Marjola?

*** Ende der Leseprobe *** 

Du möchtest weiterlesen?

MARJOLA ist ab 28.10.2023 überall erhältlich wo es Bücher gibt.

***

Impressum

© 2023 Franziska Szmania

Berlin

Lektorat und Korrektorat: Melina Coniglio – Autorin & Lektorin www.melinaconiglio.de

Umschlaggestaltung: Nina Austermeier www.isabelaust.com

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung ist ohne Zustimmung der Autorin unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.