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Das Paket
Eine weihnachtliche Kurzgeschichte aus Selvia
Passend zum Roman: MARTHA Anarchie
Das Paket
Eine dunkle Pfütze taucht vor Eva auf und sie kann gerade noch rechtzeitig über sie hinweg springen. Es ist mit einem Schlag so dunkel geworden, dass sie kaum ihre Hand vor Augen sieht. Dabei ist es noch nicht mal Abend. Die Straßenlaternen sind ausgefallen, zerstört von Randalierern und Gegnern des neuen Präsidenten.
Mit raschen Schritten eilt Eva die Straße entlang. Der Wind bläst ihr unangenehm die Hagelkörner ins Gesicht und sie sehnt sich nach der Wärme ihres Zuhauses. Die dunklen Wolken hängen so tief, dass selbst die kleineren Hochhäuser in ihnen verschwinden.
Der Winter zeigt sich dieses Jahr von seiner grauen Seite. Schnee hätte den Beton der Stadt wenigstens verdeckt und etwas Helligkeit in die Straßen von Selvia gebracht. Doch der Matsch, Regen und Hagel passen zur angespannten Situation auf der Insel. Zumindest bleiben bei diesem Wetter die Randalierer zu Hause.
Tief zieht Eva ihre Mütze ins Gesicht und läuft dicht an der Häuserwand entlang, um dem Wind und Hagel so wenig Angriffsfläche wie möglich zu geben.
Ihre Füße stoßen gegen etwas Hartes und Eva stolpert zur Seite. Erschrocken stützt sie sich mit den Händen an der Wand ab.
»Verdammte Wasserboje«, schimpft sie laut und sucht gebückt den Weg nach dem Hindernis ab. Es ist schwer, bei diesem Wetter überhaupt etwas zu erkennen.
Sie tastet sich vorsichtig einen Schritt weiter und berührt mit ihrem Schuh eine dunkle Kiste, die auf dem Weg steht. Überrascht richtet sie sich auf. Doch sie ist allein.
Wer könnte sie verloren haben? Eva hebt die Kiste auf und begutachtet sie misstrauisch. Das Paket besteht aus festem Papier und kaum erkennbare Bilder sind darauf geklebt. Unbehaglich schaut sie sich um.
Man lässt in Selvia nicht einfach etwas auf der Straße stehen, schon gar nicht aus Papier – einem Rohstoff, der rar ist. Den Verlierer erwarten harte Strafen. Auch diese Gesetze hat Abel nicht geändert. Wobei das weniger verachtenswert ist, als die Beibehaltung der Gesetze zum angeblichen Schutz der Frau.
Ein Schutzmann kommt um die Ecke. Er läuft langsam, aber konzentriert die Straße herunter. Ihn scheint das Wetter nicht zu stören.
Eva wird es heiß und kalt zugleich. Wenn sie die Kiste jetzt abstellt, könnte er sie als die Verunreinigerin halten. Sie drückt das Paket an ihren Körper und eilt weiter.
Egal wer die Kiste verloren hat, sie hat ihm einen Gefallen getan, versucht sie sich einzureden. Außerdem muss sie zurück ins Waisenhaus. Sie hat keine Zeit, einem von Abels Männern die Wahrheit zu erklären. Und würden sie ihr glauben? Niemals. Sie ist eine Frau.
Eva verdrängt den Gedanken und konzentriert sich auf den Nachhauseweg. Ruth erwartet sie. Sie wollte heute Haferkekse backen. Die Kinder werden sicher schon ungeduldig am Tisch sitzen und jammern. Ihre Schritte werden schneller.
Endlich taucht das Waisenhaus, ein alter, zusammengedrückter Bau zwischen zwei modernen Hochhäusern, auf. Das Heim hat nur drei Etagen und wirkt völlig deplatziert zwischen den grauen Betonklötzen mit ihren sieben Stockwerken. An einigen Stellen kann man sogar Holzbalken durch den Putz erkennen.
Eva eilt die breite Treppe zu einer verzierten Tür hoch und betritt die Eingangshalle des Waisenheimes, welches heute als Unterschlupf für acht Erwachsene und vier Kinder dient. Doch für wie lange noch?
Einen Moment lang schnürt die Angst vor Abel und seinen Strafen ihr die Luft ab. »Es geht allen gut«, murmelt sie und atmet tief durch.
Vorsichtig legt Eva das Paket ab und schält sich aus ihrem schweren, nassen Mantel. Auf dem Holzboden bildet sich um ihre Füße herum eine Pfütze.
Was soll sie jetzt mit dem unerwarteten Fund machen?
Sie hängt ihren Mantel auf und legt die DV-Uhr ab, damit niemand von Abels Spitzeln sie belauschen oder gar beobachten kann.
Das Heim duftet herrlich nach den Haferkeksen und Evas Magen knurrt auf.
»Eva«, ruft ihr eins der Mädchen entgegen und stürmt aus dem Spielzimmer. Eva drückt sie an sich. »Hallo Julia. Alles gut?«
»Ja, wir durften beim Kekse backen helfen.«
»Aber Ruth hat geschimpft.« Toms pausbäckiges Gesicht taucht neben Julia auf und er winkt zaghaft. Wenn niemand da ist, umarmt er Eva, aber in Anwesenheit der Mädchen möchte er sich keine Blöße geben. Zu tief sitzt die Erziehung seines Vaters. Eva versteht das nur zu gut. Auch sie hat lange gebraucht, um zu verstehen, dass Frauen und Männer gleich sind.
Mit dem ehemaligen Rebellenanführer und neuen Präsidenten Abel hätte dies Wirklichkeit werden sollen, stattdessen hält er weiter an Adams Politik fest und behauptet, die Frau müsse vom Mann beschützt werden. Was bedeutet: keine Rechte, keine Verantwortlichkeiten, keine Möglichkeiten.
»Warum hat Ruth geschimpft? Habt ihr mit schmutzigen Fingern am Teig genascht?«, fragt Eva die Kinder und unterdrückt ein Lächeln. Sie kann sich das nur zu gut vorstellen.
»Nein«, antwortet Eddi mit entrüsteter Miene. »Sie hat geschimpft, dass man mit Wasser und Haferflocken keine leckeren Kekse backen kann.«
»Und sie hat gesagt: ›Abel sollen die Quallen holen‹«, flüstert Maria, die mit dem Jüngsten auf dem Arm, Klöpschen, zu ihnen gestoßen ist.
»Sowas aber«, flüstert Eva zurück und hält sich gespielt die Hände vor dem Mund.
»Was gibt es denn hier zu bestaunen?« Chamuels tiefe Stimme dröhnt durch die Halle und die Kinder schauen auf. »Ah, eine tolle Frau. Darf ich die Dame des Hauses auch begrüßen?« Chamuel hebt Tom hoch, beugt sich zu Eva und drückt ihr einen Kuss auf die Lippen. Sofort möchte Eva sich in seine Arme fallen lassen, um sich an ihrem Freund aufzuwärmen. Doch die Kinder brüllen laut ein »Iiiih« und schieben sie lachend auseinander.
»Na wartet, ihr Rabauken!«, ruft Chamuel und die Kinder rennen kreischend davon. Schon beginnt eine wilde Tobejagd.
Sollen sie den Spaß genießen, ehe Helene ihn unterbindet, denkt sich Eva und greift das Paket. ›Was solls.‹ Jetzt kann sie aus der Not auch eine Tugend machen. Die Kinder könnten eine Überraschung gebrauchen. Die Erwachsenen ebenso.
Mit dem Paket eilt sie in die Küche, um Ruth zu begrüßen. »Es riecht verführerisch, Ruth.«
»Das sind Kekse, bestehend aus Wasser und Haferflocken. Ich bitte dich!«
»Und Zimt. Wenn mich meine Nase nicht täuscht.«
»Das letzte bisschen was wir hatten, und das letzte halbe Paket Butter.«
»Mhm, und eine Suppe hast du auch gezaubert? Du bist der Wahnsinn.« Eva will sich auf keinen Fall von Ruths schlechter Laune herunterziehen lassen.
Ein kalter Wind fegt durch die Küche. Die Eingangstür knallt zu.
»Entschuldigung!« Marthas Stimme klingt kratzig.
Mit dem Paket unter dem Arm verlässt Eva die Küche, um den Essenstisch vorzubereiten. Auf dem Weg ruft sie über die Schulter: »Ich habe etwas auf der Straße gefunden, und wenn alle brav den Tisch decken, packen wir es gemeinsam aus.«
Die Kinder lassen sofort von Chamuel ab und rennen zu Ruth, um Teller und Tassen zu holen.
Erneut öffnet sich die Eingangstür und Salomé kommt herein. Eva fröstelt es.
»Ihr werdet es nicht glauben, ich habe Tee bekommen.« Salomé tritt sich die Schuhe am Eingang ab und schließt die Tür. Sofort ist es leiser. Der Sturm scheint immer schlimmer zu werden.
»Du bist meine Rettung«. Ruths Stimme klingt gleich fröhlicher und Eva freut sich auf eine heiße Tasse Tee. Drinnen ist es zwar wärmer als draußen, aber sie können sich das Aufheizen dieses Gebäudes nicht unbedingt leisten und müssen, seit Abel ihnen die Unterstützung versagt hat, sparen.
Wie lange werden sie die Kinder hier versorgen und behüten dürfen? Mit Schaudern starrt Eva die Eingangstür an.
»Worum sorgst du dich?« Chamuel umarmt sie und drückt ihr einen Kuss auf den Scheitel.
»Dass jederzeit die Schutzmänner kommen könnten und die Kinder abholen.«
»Das werden sie nicht. Abel hat genug anderes zu tun. Glaub mir. Die Stadt brennt an allen Enden.«
»Davon habe ich nichts gemerkt, mir war es draußen eher zu kalt.«
Er lacht auf. »Du Komikerin.«
Eva grinst Chamuel verschmitzt an und lehnt sich an ihn.
Chamuel schaut auf das Paket in ihren Händen. »Was hast du da mitge…«
»Wir sind fertig!«, wird er von Tom unterbrochen.
»So schnell?«, freut sich Eva und begutachtet stolz den Tisch. Die Kinder haben an alles gedacht. Teller, Gabeln und Tassen.
Helene, die Älteste im Haus und Lehrerin der Kinder, betritt den Essensraum und sofort legt sich ihre Stirn in Falten. »Wie sieht das denn aus? – die Tasse nach rechts. Die Gabel an die Seite des Tellers. Das Auge isst mit!« Ihre strenge Stimme sorgt sofort dafür, dass die Kinder langsamer werden. »Jawohl, Frau Helene«, antworten sie im Chor und schieben Tassen und Gabeln an die richtige Stelle. Gerade rechtzeitig, ehe Ruth mit einem großen Teller Kekse herein kommt.
Salomé trägt dahinter eine Kanne dampfenden Tees. Seufzend lässt sich Eva am Tisch nieder.
Im Nu sitzen Kinder und der Rest der Erwachsenen.
»Wer möchte heute den Dank aussprechen?«, fragt Helene in die Runde.
»Ich«, wispert Julia und steht auf. »Danke Ruth für die Kekse. Danke Salomé für den Tee.«
»Aber was ist das denn jetzt für ein Paket, Eva?«, plappert Eddie mitten in den Dank hinein.
»Eddie!«, ruft Helene entrüstet.
»Das wüsste ich jetzt aber auch zu gerne«, sagt Chamuel.
»Paket? Ich dachte, es gibt Kekse.« Aaron drängt sich auf den freien Platz zwischen Martha und Salomé und grinst in die Runde.
»Paket, Paket«, rufen die Kinder im Chor.
»Ist ja gut.« Eva steht auf und hebt das Paket hoch. Vorsichtig hebt sie den Deckel hoch und schaut hinein. Ein dickes Buch, eine Tischdecke und sechs längliche Stangen befinden sich darin, außerdem gefaltete Papiersterne und Kugeln aus zerbrechlichem bunten Glas.
Unglaublich. Gegenstände, die keinen Nutzen haben, sind selten auf der Insel.
Nacheinander holt Eva alles vorsichtig heraus.
»Niemand fasst etwas an«, sagt Helene mahnend, ehe eins der Kinder die Kugeln anfassen konnte.
»Ach menno«, meckert Tom sofort los.
Eva nimmt ehrfürchtig das dicke Buch heraus. »Gebräuche und Sitten auf dem Festland«, liest sie laut vor.
»Ein Buch über das Festland?« Martha erhebt sich ebenfalls, um einen Blick auf das Buch zu werfen.
An einer Stelle ragt ein weiterer Stern heraus und Eva schlägt die markierte Seite auf. »Weihnachten. Das Fest der Liebe und Geschenke.«
»Weih- bitte was?« Martha lässt sich zurück auf den Stuhl fallen und lehnt sich an Aaron. »Das klingt wie von weihen, einweihen oder so.«
»Weihnachten hat seinen Ursprung in der christlichen Religion. Sie ist eine geweihte Nacht, in der Gottes Sohn geboren wurde. Die Gläubigen feiern an diesem Tag seine Geburt«, liest Eva vor.
»Ich dachte, die Festländer haben es nicht so mit Religion«, murmelt Chamuel.
Eva zuckt mit den Schultern und sucht die Stelle, wo sie stehen geblieben war. »Da viele sich von der Religion abgewendet haben, hat sich das Fest im Laufe der Zeit gewandelt. Heute gibt es zwei Versionen, wie Weihnachten gefeiert wird. Die Gläubigen feiern weiterhin die Geburt und meinen, dass das Kind als Engel, Christkind genannt, auf die Erde kommt und alle beschenkt.«
»Wie bitte, Engel? Die bringen doch nur Unheil und Strafen. Na vielen Dank, auf diese Geschenke kann ich verzichten.« Aaron schüttelt den Kopf.
Eva liest weiter. »Die Festländer, die an keinen Gott glauben, behaupten, ein alter dicker Mann namens Weihnachtsmann kommt heimlich in der Nacht und bringt in einem Sack die Geschenke.«
»Das wird ja immer besser«, ruft Helene überrascht aus. »Ein Mann, der ins Haus einbricht und Geschenke bringen soll. Die Festländer spinnen doch.«
Die Kinder lachen über den Ausbruch ihrer Lehrerin.
»Die Weihnachtszeit ist die beliebteste Zeit der Festländer. Alles wird mit Lichtern geschmückt, Kerzen werden angezündet.« Eva hält inne und schaut in die Kiste. »Oh schaut mal!« Sie dreht das Buch um und zeigt auf das Bild, wo die Stangen am oberen Ende ein kleines Feuer haben und ein Tisch mit Sternen und Essen dekoriert ist. »Dieselben Dinge befinden sich im Paket.«
Sofort breitet Julia die Tischdecke aus. Salomé kann gar nicht schnell genug die Teekanne in Sicherheit bringen. Marie verteilt die Sterne und hält die Kerzen in die Luft. »Jetzt sieht unser Tisch aus wie auf dem Bild.«
»Etwas fehlt.« Aaron steht auf und verlässt den Raum. Kurz darauf ist er mit zwei dünnen Gläsern zurück. »Probiert mal, ob die Kerzen da rein passen.«
Etwas schief, aber aufrecht stehen die Stangen in den Gläsern. Alle klatschen begeistert in die Hände.
»Zum Fest treffen sich Familie und Freunde, kochen und essen gemeinsam und beschenken sich gegenseitig. Es werden Weihnachtslieder gesungen und Gedichte aufgesagt. So erhellt die Liebe die dunkle Jahreszeit.« Mit diesen Worten schließt Eva das Buch. »Schön, oder?«
Tom steht so abrupt auf, dass sein Stuhl umfällt.
»Tom. Ich bitte dich.« Helene hebt den Zeigefinger, doch er beachtet sie gar nicht und rennt hinaus.
Mit einem kleinen Beutel kommt er wieder. »Ich habe einen Sack mit Geschenken«, ruft er aus. Er schüttet sein Säcklein aus und präsentiert eine Sammlung von Steinen. »Sie haben alle eine andere Form«, erklärt er. »Das hier ist ein Herz. Das schenke ich …« Er errötet und schaut zu Boden. »Eva«, murmelt er weiter.
»Ach, danke du Lieber.« Eva nimmt den Stein und drückt ihn an ihre Brust. »Er sieht wirklich aus wie ein Herz.«
Tom räuspert sich und untersucht erneut seinen Steinhaufen. »Der hier ist ein Teddy, den bekommst du, Julia. Der Klops ist für Klöpschen.« Alle lachen. »Und der ist wie ein Zahn eines Haies. Für dich, Aaron.«
»Oh toll. Danke Tom.«
Nacheinander verteilt Tom seine Geschenke. Jeder Stein wird bewundert.
»Wir haben zusammen gekocht, wir hatten einen Weihnachtsmann und wir haben etwas Leckeres zum Essen. Jetzt müssen wir singen, dann sind wir wie die Festländer«, ruft Maria aus.
Ruth stimmt sofort ein Lied an. Alle singen mit. Eva wird es warm ums Herz.
Drei Lieder später ruft Salomé: »Jetzt wollen wir aber die Kerzen zum Brennen bringen. Zeig mir nochmal das Bild.« Sie starrt kurz in das Buch, dann nimmt sie die Stangen und verschwindet in der Küche.
Langsam kommt sie einige Augenblicke später zurück. »Kann sein, dass es jetzt etwas verbrannt in der Küche riecht«, meint sie verlegen. Winzige Flammen tanzen über den Kerzen.
»Wie hast du das hinbekommen?«, ruft Eva begeistert. Vorsichtig werden die Kerzen zurück in die Gläser gesteckt. Die Kerzen verteilen ein rot-orangenes Licht, alles wirkt plötzlich gemütlicher und wärmer.
»Das sieht so schön aus«, sagt Julia und schaut verträumt auf die flackernden Kerzen.
»Aber jetzt hätte ich gerne einen Keks«, ruft Aaron und sofort greifen alle Kinder lachend zu.
»Nicht so stürmisch«, versucht Helene die Kinder zurückzuhalten, doch dann muss sie mitlachen und schnappt sich ebenfalls einen Keks, was wieder Lacher hervorbringt.
Die Kekse schmecken herrlich, das muss am Ende sogar Ruth zugeben. »Mit den richtigen Menschen schmecken selbst diese Kekse wie ein Festmahl«, ruft sie aus.
Frohe Weihnachten!
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